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Dame oder Schach – wie meistern wir die aktuellen Herausforderungen für Wirtschaft und Politik?

Wer die aktuellen Bemühungen von Wirtschaft und Politik verfolgt, mit den gehäuften Krisen umzugehen, dem drängt sich eine – zugegeben provokative – Frage auf: Haben wir Strategie verlernt? Oder: Verwechseln wir vielleicht Strategie mit Langfristplanung? Glauben wir, genug Taktik ergibt auch Strategie?

Von Falco Weidemeyer

Zu glauben, wir könnten vollkommen neuen Problemen, die in einer nicht gekannten Häufung auftreten, mit den gleichen reaktiven Abwehrmechanismen und kurzfristigen Optimierungen begegnen, erscheint doch bereits auf den ersten Blick nur wie „Zeit Kaufen“. Der Handlungsbedarf bei der ESG- oder der digitalen Transformation, neue Arbeitsrealität und demografischer Wandel, die Verwundbarkeit und der Erneuerungsbedarf internationaler Lieferketten, der sich durch COVID gezeigt hat, Krieg in der Ukraine, geostrategische Risse und Verschiebungen (von China/ Taiwan über China /USA bis hin zum Unterstützungsbedarf des globalen Südens und der Erstarkung von BRICS), völlig geänderte Finanzierungsbedingungen, gestiegene Preise, eine gravierende Energietransformation für Unternehmen und Haushalte, Kauf- und Investitionszurückhaltung, industrielle Abwanderungstendenzen – all dem werden wir nicht durch Pflaster oder „Quick Fixes“ begegnen können.

Das heißt nicht, dass die nicht nötig sind, um die Zeit und das Geld für grundsätzliches Nachdenken zu haben. Aber ich stelle die These auf, dass es eben genau das braucht – eine grundsätzliche Neuorientierung. Wenn die in Unternehmen ausbleibt, dann wird eine strategische Orientierung an einem neuen, erweiterten Zielsystem fehlen, das finanzielle, ökologische und soziale Kriterien verbindet und daraus die Implikationen für Standorte, Märkte, Produkte, Dienstleistungen, Talente und den eigenen Zweck ableitet. Nur eine Erweiterung des Zielsystems kann einen Betrachtungsrahmen für die gehäuften Transformationsbedarfe geben. Bleibt das aus, verheddern sich Unternehmen in taktischem Aktivismus und „transformieren hinterher“.

Bleibt die grundsätzliche Neuorientierung in der Politik aus, wird auf der einen Seite Hilfspaket über Hilfspaket wie ein Pflaster auf eine schlecht behandelte Verletzung geklebt, mit offenem Ausgang. Auf der anderen Seite, und viel schlimmer, haben diejenigen Gruppierungen mehr Öffentlichkeit, die versuchen, sehr einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu geben. Fast weltweit beobachten wir in den industrialisierten Ländern politisch extreme Tendenzen. Deren Gründe sind vielfältig. Ich glaube aber, dass sie zum Teil auch darin begründet sind, dass aus dem politischen Mainstream zu wenig für einen neuen gesellschaftlichen Entwurf getan und gesagt wird. Taktisches Geplänkel, Zugeständnisse mal an den einen und mal an den anderen Koalitionspartner und Programme, die kaum über eine Legislaturperiode hinausreichen – wohlgemerkt tun das die oben beschriebenen Probleme sehr wohl – führen zu Frust und Vertrauensverlust. Ein gefährlicher Nährboden.

Daher mein Plädoyer: Wir brauchen mehr Strategie und weniger Taktik. Raus aus taktischem Aktivismus und rein in eine strategische Neuorientierung im Miteinander von Wirtschaft und Politik. Entbürokratisierung, Digitalisierung und eine nachhaltige Industrie- und Wirtschaftspolitik, die sich sowohl am Erhalt nachhaltiger Beschäftigung wie an ökologischen und sozialen Kriterien messen lässt, eine stabile Plattform für wirtschaftliche arbeitende Unternehmen (denn nur die können am Wandel aktiv mitwirken), eine Stärkung Europas vor allem als Friedensunion, Ausgleich mit dem globalen Süden und eine balancierende Stimme in den großen geopolitischen Spannungen werden sicher Elemente sein, die dafür nötig sind. Ja, eine große Agenda, aber es hilft ja nichts – wie gesagt:“ Schach, nicht Dame“.

Über den Autor:
Falco Weidemeyer ist bei EY Global Head of Turnaround and Restructuring.

29.11.2023 | 15:34

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